Artesia
Auf den ersten Blick ist Artesia das klassische Lizenz-Rollenspiel – die Welt ist einer erfolgreichen Comic-Serie entnommen, und im Klappentext steht was von Fuzion und LifePath. Ein tumber Versuch, schnell Geld aus dem Nischenmarkt Rollenspiel zu ziehen (Wie die Masterbook-Serie von WEG früher) oder ein mehr schlecht als recht als Fanbook getarntes Rollenspiel im Versuch, auch Comic-Fans anzusprechen?
Weder noch. Es gibt da ein paar Details, Hintergrundbeschreibung und System auf stabile Füße stellen: Zum einen ist der Autor des Rollenspiels auch der Autor der Comics – wir haben es hier also nicht mit einer Arbeit durch Dritte zu tun bei der der vorgebliche Widerspruch zwischen Rollenspiel-Adaption und Werktreue durch ungezählte Abstimmungsrunden immer zugunsten der Werktreue und auf Kosten von Spielbarkeit aufgelöst wird.
Und Mark Smylie ist selbst jahrzentelang aktiver Rollenspieler und Spielleiter gewesen. Er hat die Comic-Serie Artesia wohl auch eingedenk seiner Rollenspiel-Erfahrungen entwickelt und gestaltet und es ist ihm gelungen eine große, stimmige Welt zu schaffen, die wenige der klassischen Fantasy-Klischees aufgreift. Ohne jetzt einen tieferen Einblick zu geben: Es ist eine Welt voll Magie, Geistern, Göttern und Kriegen die sich wie in einem Mosaik zu einem fantastischen Ganzen zusammenfügt und den Hauptfiguren der Geschichte Tiefe und Motivationen verleiht, ihre Ziele zu verfolgen.
Artesia ist ein martialisches, gefährliches Spiel; es hat eine Vielfalt von Regeln, die in ihrer Ganzheit barock anmuten aber ein einheitliches Ganzes bilden. Diese Ganzheit ist zu Beginn überwältigend, aber es gibt zwei Bereiche, die Artesia aus der Ecke der nicht weiter erwähnenswerten Kino/Buch-Adaptionen hervorheben, da sie das Spiel erzählerisch gestalten: Die Charaktererschaffung (das LifePath-System) und die Erfahrungspunkte-Mechanik. Beide sind auf ihre eigene Art in die Spielwelt eingebettet und bieten einen Haufen Möglichkeiten, einen Charakter von Beginn an mit Leben zu füllen und im Laufe des Spiels mit relevantem Bezug auf das Geschehen weiterzuentwickeln.
Die Charaktererschaffung
Artesia setzt auf ein LifePath-System; Man ermittelt nicht nur die Herkunft, Abstammung, das Geburtsdatum, Omen bei Geburt, Familienverhältnisse und Kindheitsereignisse, sondern auch ein Stück 'Vorgeschichte' – üblicherweise die letzten fünf Jahre des Charakters, in Jahresschritten. All diese Elemente sind perfekt in die Welt eingepaßt und vermitteln schon von Anfang an eine Idee davon, was Inhalt und Antrieb der Geschichten auf der „Bekannten Welt“ sind.
Dabei ist jeder dieser Schritte zwar bestimmend für einen oder eine Menge Werte auf dem Charakterbogen, aber gerade in den letzten fünf Jahren bekommt man immer wieder Pakete von Eigenschaften und Punkten, mit denen man seine Spielfigur (innerhalb gewisser Parameter) nach eigenem Gusto gestalten kann. Dieser Prozeß schafft in der Regel ziemlich schnell ein großes Ganzes, dass man als lebendigen Charakter in einer lebendigen Welt wahrnimmt.
Bei einer Demo-Session, in der ich nur die Charaktererschaffung mit zwei Leuten gemacht habe, gab es einen Charakter, der im ersten Jahr eine unglückliche Liebesbeziehung hatte und danach immer nur kurze Techtelmechtel, am Ende aber einen reichen Gönner fand (bzw. eine Gönnerin) – die Geschichte war klar: Nach Verlust seiner Jugendliebe hat der Gutaussehende (die Werte gaben das her) Charmeur versucht sich durch ein amouröses Abenteuer nach dem anderen abzulenken, bis er tatsächlich mal an eine Gräfin geriet, deren Nachwuchsproblem er tatkräftig gelöst hat…
Auf der anderen Seite muß man aufpassen, dass man sich nicht verzettelt: Wenn man jedes Ereignis für sich nimmt, bekommt man möglicherweise eine hochkomplexe Persönlichkeit, die zerissen und ohne Ziel wirkt, von den Werten her zwar spielbar ist aber keine klare Linie erkennen läßt. Das LifePath-System wirft Bauklötze aus, die Brücke (zur Story) muß man selbst daraus bauen.
Oh, auf Balance und Ausgeglichenheit ist dieses System nicht ausgelegt: Man kann mit Pech durchaus eine Figur haben, deren Werte in bestimmten Bereichen unglaublich schlecht sind. Das kann man entweder akzeptieren und damit (und daran) arbeiten; da aber bei allen LifePath-Tabellen „roll or choose“ steht, ist eine weiche Anpassung an eine eigene Idee einer Figur durchaus möglich, ohne gleich das Spiel zu sprengen.
Eine letzte Anmerkung, bevor ich zum Erfahrungspunktesystem komme: Artesia ist ein Spiel für Leute, die ihre Charaktere optimieren. Im Kaufsystem ist genug Musik drin, einen naiv/geradeheraus gebauten Charakter in seiner Effizienz nochmal deutlich zu steigern. Das ist nach meinem Dafürhalten aber nur eine weitere Ebene, in der sich die Realität der Spielwelt wiederspiegelt, dass nur die Gerissenen wirklich weiterkommen und das Macht nur die erhalten, die danach greifen.
Das Erfahrungspunkte-System
Bei Artesia gibt es keine Erfahrungspunkte für Anwesenheit, 'gutes Rollenspiel', 'coole Sprüche' oder in Abhängigkeit der besiegten Monster – naja doch, aber vielleicht anders als bei D&D oder DSA.
Grundlage für die Erfahrungspunkte sind die Arkana wie wir sie aus dem Tarot kennen, auf der Spielwelt „Book of Dooms“ genannt. Jedem dieser Arkana ist ein Thema zugeordnet, und wenn man diesem Thema entsprechend handelt, gibt es Erfahrungspunkte, die aber auch nur thematisch gebunden eingesetzt werden können. Emperor-Arkana gibt es für Leute, die Macht ausüben. Jedes Arkanum wird allgemein beschrieben (welche Bereiche es abdeckt), im Bezug auf die Darstellung im Book of Dooms, und was für Leute diesem Arkanum folgen. Beim Emperor steht zum Beispiel:
Zitat:
The Path of the Emperor is favored amongst those who use strength and force to impose rules and the Law upon themselves or others. Those upon the Emperor's Path may pledge themselves to the safety and sanctity of wider communities outside their family (the group, the tribe, the realm) but ensure that safety and sanctity through the policing of the group's behavior and internal cohesion. Those who join or lead groups, taking power over others or submitting to force and hierarchical structure, are on the Emperor's Path.
Wie bereits erwähnt gibt es eine Liste von Attributen, Vor- und Nachteilen die man kaufen (oder loswerden) kann sowie eine Liste mit Handlungen, für die man Punkte in diesem Arkanum bekommt. Beim Emperor fängt das bei Loyalität zeigen und gewinnen an und hört bei Kaiser/Kaiserin werden auf.
– das ist übrigens ein weiterer Punkt, der unüblich für eine Rollenspieladaption einer bestehen den Welt ist: Der Autor hat jede Menge Möglichkeiten und Hinweise darauf eingebaut, dass die Charaktere selbst Macht und Einfluß anstreben; ich glaube nicht dass er erwartet, dass man sich an die Geschehnisse in seinen Comics hält, wenn man eine Kampagne auf seiner Welt spielt –
Von den Arkana gibt es 22 und jeder Charakter kann zu jeder Zeit Erfahrung gemäß aller Arkana bekommen. Es gibt keine Charakterklassen, keine splat packs, keine harten Grenzen in dem, was man tun kann oder wofür man gerade in diesem Augenblick Erfahrungspunkte bekommt. Aber wenn man in einem Bereich viel erreichen will, gibt es klare Wege dorthin, die sich überschneiden und immer wieder Wendepunkte und Kreuzungen enthalten… Letztlich führen die Arkana dazu, dass die Entwicklung der Persönlichkeit sich eben auch mechanisch auswirkt, Entscheidungen nicht folgenlos verblassen, und dass Ambitionen nur durch aktives Handeln erreicht werden können.
Artesia ist von den Erzähl- und Indie-Spielen sicher auch deswegen ein besonderes, weil man es nicht in ein bis drei Sitzungen anspielen und „begreifen“ oder „erfahren“ kann (übrigens gilt das meiner Meinung nach für viele andere Spiele auch; drei Sitzungen sollte das Minimum sein bevor man sich eine abschließende Meinung macht) – Artesia fordert eine Kampagne, den Willen sich mit einer dichten Welt und einem komplexen Regelwerk auseinanderzusetzen, aber dann wird man auch belohnt.
Das Buch selbst ist eines der schönsten, die ich besitze (nicht weiter verwunderlich), in der regelmäßigen Anwendung jedoch ist der fehlende Index sehr mißlich. Die Fülle der Regeln (und die daraus resultierende 'Quest for the Modifiers') führt gerade zu Beginn schnell dazu, sich mal in den Seiten zu verlieren; eine gewisse Eingewöhnungszeit vorausgesetzt wird das aber auch besser.
Wer eine dichte Fantasywelt (ohne Elfen, Zwerge oder Orks) und eine dichte Regelwelt mag, kann bei Artesia glücklich werden. Ein klassisches Erzählspiel ist es nicht; aber es ist auch keine klassische Fantasy-Melange. Wer Inspiration und neue Ansätze sucht, ohne gleich die bekannte Rollenspielwelt „aus den Angeln heben“ zu wollen, für den ist Artesia womöglich ein sanfter Einstieg.