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RPG allgemein: [Dom Denkt] 4. Die Fiktion (Blog) {lumpley Prinzip, Fiktion, RPG Theorie}
19.7.2008, 15:00
E-Mail – WWW
Dom
Nachdem ich zuletzt über die Spielrunde geschriebne habe, werde ich mich im folgenden Artikel näher mit der Erforschung der Fiktion auseinandersetzen.
Wie ich schon mehrfach geschrieben habe, geht es beim Rollenspiel um die Fiktion. Das ist sozusagen das Alleinstellungsmerkmal — die Spieler stellen sich was vor, stellen ihre Vorstellungen vor und bauen daraus einen gemeinsamen Vorstellungsraum. Das Wörtchen Raum passt gut, weil es sich bei dem Vorgestellten meist um eine Welt handelt, um Charaktere, die sich durch die Welt bewegen und die handeln. Letztendlich kommt wohl keine Erzählspielrunde ohne Charaktere aus — und wenn es personifizierte Wassertropfen sind, deren Wanderung von der Wolke, durch die Erde, zur Quelle bis zum Meer beschrieben wird, wo sie dann wieder verdunsten.

Fangen wir aber mit den Vorstellungen der einzelnen Spieler an. Analog zum gemeinsamen Vorstellungsraum gibt es auch den individuellen Vorstellungsraum. Hier findet man alles das, was sich ein Spieler so vorstellt. Viele Rollenspieler lesen Bücher oder sehen Filme und stellen sich vor, wie sie als ein Charakter auf der Welt des Buches oder des Filmes umherwandern. Das mache ich so und ich weiß aus Erzählungen, dass es auch andere so geht. Diese Vorstellung ist cool und macht Spaß. Insbesondere von Rollenspiel-Produkten erwarte ich, dass ich sofort etwas finde, was mich fasziniert und wo ich mich hineindenken kann. Das gelingt einigen Spielen besser (z.B. Earthdawn und DSA) und anderen schlechter (PROST, WoD und D&D4 beispielsweise). Bei anderen Spielern ist das anders — wäre ja auch traurig, wenn das nicht so wäre.

Allerdings hat diese Vorstellung mit dem Spiel noch nicht viel zu tun. Es ist nur eine persönliche, individuelle Vorstellung, auf die sich noch keiner beziehen kann, denn die kennt ja außer mir keiner. Ohne zumindest eine zweite Person ist da nix mit Rollenspiel.

(Einschub: Solo-Abenteuer, wie es sie beispielsweise von DSA gibt, sind damit an der Grenze von Rollenspielen. Einerseits ist der Leser damit zwar alleine, andererseits bezieht sich der Autor gerade auf das, was sich der Spieler vorstellt. Zumindest in einem gewissen Rahmen.)

Wenn dann die Leute miteinander spielen, erzählen sie sich gegenseitig von ihren individuellen Vorstellungen. So erzählt der Spielleiter vielleicht zu Beginn eines neuen Abenteuers, wie die Charaktere in einer Taverne sitzen und ein finster gekleideter Mann eine geheimnisvolle Drohung ausspricht. Aufgrund seiner Rolle wird dies von den Anderen üblicherweise akzeptiert, so dass es jetzt ein paar Fakten im gemeinsamen Vorstellungsraum gibt. Aber klar ist: Alles, was irgendein Spieler einbringt, wird von den anderen bewertet und muss erst akzeptiert werden, damit es im gemeinsamen Vorstellungsraum landet. Dabei hat der Spielleiter, wenn es einen gibt, die größte Freiheit: Er darf üblicherweise alles Mögliche erzählen, was irgendwie zum gewählten Spiel passt. Charakterspieler haben dagegen üblicherweise nur das Recht, Handlungen ihres Charakters zu beschreiben – die Auswirkungen legt schon wieder der Spielleiter fest. Werden dem Charakterspieler größere Rechte eingeräumt, so läuft das meist unter dem Stichwort „Player Empowerment“. Doch trotz aller Rechte, sobald ein Spieler sagt: „Nee, das will ich mir nicht vorstellen!“ ist es das gewesen. Und da ist es egal, ob der SL oder ein anderer Spieler das Faktum vorgeschlagen hat.

Konkretes Beispiel: In meiner ABIMA-Runde gab es einen Druiden, ein Spielercharakter. In einem Kampf ist er von ein paar Echsenmenschen schwer verwundet worden. Der Druide versuchte zu fliehen – doch vergebens. Ich legte fest, dass die Echsen ihn einholten und … doch soweit kam es nicht. Der Spieler sagte: „Nein, das kann nicht sein, denn ich bin laut Regeln soundso schnell …“. Mein Faktum war erst mal abgelehnt. Doch ich gab mich nicht geschlagen, wir diskutierten, zeichneten die Situation auf und ich gewann die Argumentation. Der Spieler gab zähneknierschend klein bei, sein Charakter wurde eingeholt und erschlagen.

Meine Kompetenz als Spielleiter hat also nicht ausgereicht, um die Situation zu klären. Vielmehr musste ich diskutieren und argumentieren, d.h. das Faktum „der Druide wird eingeholt“ wurde nicht über meine Kompetenz in den gemeinsamen Vorstellungsraum gebracht, sondern über implizite Einigungsregeln, die nirgendwo aufgeschrieben stehen; weder im Regelbuch, noch sonst wo. Sicherlich hat meine SL-Position meinen Argumenten ein schwereres Gewicht gegeben, aber das alleine hat nicht ausgereicht.

Dieses Prinzip, dass sich die Spieler auf alle Fakten des gemeinsamen Vorstellungsraumes einigen müssen, wird das lumpley-Prinzip genannt (benannt nach Vincent „lumpley“ Baker, der es angeblich als erster formuliert hat).

Wenn jetzt ein Fakt im gemeinsamen Vorstellungsraum angekommen ist, kommt die Flexibilität des menschlichen Geistes ins Spiel: Die individuellen Vorstellungsräume werden angepasst. Stell dir einfach mal eine Frau vor, die in einer Trucker-Kneipe kommt und sich an den Tresen setzt. Ein paar Kerle stehen am Billard-Tisch, Queues in der Hand. Vielleicht hat deine Frau ja ein kariertes Hemd und Jeans an, vielleicht aber auch ein Kleid. Doch nur so lange, bis ich sage: „Sie ist nackt.“ Dann verschwindet in der individuellen Vorstellung die Kleidung und es ist, als wäre sie niemals angezogen gewesen und die Kerle am Billard-Tisch starren ihr auf einmal hinterher. Und das, obwohl sie in der ursprünglichen Vorstellung vielleicht nur mal kurz aufgeschaut haben. Aber diese ursprüngliche Vorstellung ist hinfällig geworden, sie ist dem gemeinsamen Vorstellungsraum angepasst worden.

Schwierig wird es, wenn die eigentliche Entwicklung in meinem individuellen Vorstellungsraum (das, was ich als Fakten angesehen habe), nicht zu dem passt, was für den gemeinsamen Vorstellungsraum vorgeschlagen wird. Dann gibt es Widersprüche, die ich nicht zulassen will und ich sage: „Nein, das kann nicht sein, weil …“ Oder es passiert etwas, was ich nicht möchte. Wie beispielsweise mein Kumpel, der den Druiden gespielt hat. Er hatte wahrscheinlich gleich zwei Probleme: Erstens wollte er gerne, dass sein Druide flieht. Und zweitens passte die Idee, dass er eingeholt wurde, nicht in seinen Vorstellungsraum, denn dort waren die Echsen zu weit weg und sein Charakter zu schnell. Letztendlich musste er den ganz schön umbauen, damit der anschließende Charaktertod dann noch in die Vorstellung gepasst hat. Wenn das nicht klappt, hat man seltsame Sprünge in seiner Vorstellung. Wie ein schlecht geschnittener Filmen (ich las davon, dass der neue Hulk-Film in der FSK12-Version besonders schlecht sein soll).

Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens auch das Solo-Spiel von Rollenspielern zwischen den Spielsitzungen. Manch einer möchte sich auch zwischen den Sitzungen mit dem Spiel beschäftigen. Dann ist er entweder Spielleiter und bereitet Abenteuer vor, oder er ist ein Charakterspieler, der seine Charaktere liebevoll ausarbeitet, ihnen aufwändige Vorgeschichten gibt, Quellenbücher studiert, neue Charaktere zum Spaß baut, usw. Hierdurch wächst der individuelle Vorstellungsraum an. Allerdings ist dies nicht Rollenspiel – es ist zwar eine Beschäftigung mit der Materie und hat einen vorbereitenden Charakter. Aber bevor die neuen Ideen in den gemeinsamen Vorstellungsraum wandern, müssen sie erstmal an den anderen Spielern vorbei!

Der letzte Gedanke, der mir in diesem Zusammenhang noch wichtig erscheint, ist die Unterscheidung Essenz vs. Farbe. Farbe ist der fürs Spiel unwichtige Teil — wie beispielsweise die Farbe der Tür, durch die unsere Helden gerade aufgehalten werden. Der wichtige Teil, die Tür, ist die Essens eines Faktums. Um zu erkennen, was ob ein Teil jetzt Essenz oder Farbe ist, kann man die Frage stellen: Würde es etwas ändern, wenn ich den Teil durch etwas anderes ersetzte? Würden die Charaktere anders reagieren, wenn die Tür schwarz statt braun angestrichen wäre? Wenn sich nichts ändert, ist es Farbe. Wenn sich was ändert, ist es Essenz.

Wenn man so überlegt, wie viel Farbe in einem gemeinsamen Vorstellungsraum landet, ist der Anteil erstaunlich hoch. Ich will mal behaupten: In den meisten mir bekannten Runden deutlich mehr als die Hälfte. Aber wozu ist Farbe da? Sie erzeugt eine Grundstimmung bei den Spielern, sie regt die Phantasie an, macht alles schön bunt und lässt die Vorstellung nicht grau-in-grau. Der Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Spieler ist häufig die Farbe, die er in der Lage ist, einzubringen. Rein technisch macht es keinen Unterschied, ob nun einer in der Lage ist, seine Stimme zu verstellen wenn er einen Mafiosi darstellt. Tut er es aber, so werden die individuellen Vorstellungen dadurch geprägt, Stimmung wird vermittelt, das Bild wird plastischer.

Bei der Farbe-Essenz-Unterscheidung muss man allerdings Vorsicht walten lassen: Sie ist ziemlich flexibel. Was jetzt noch Farbe ist, ist gleich schon Essenz. Normalerweise ist es egal, ob die Tür braun oder schwarz ist. Wissen die Charaktere jedoch: „Hinter der schwarzen Tür lauert der Tod“, so wird die Farbe auf einmal zur Essenz. Ist die Tür einmal geöffnet und stellen die Charaktere fest, dass die Aussage eine Lüge war, so wird die Farbe wieder Farbe.
Im bisherigen Text bin ich relativ vorsichtig mit den Begriffen „Hintergrund“ und „Spielwelt“ umgegangen und habe nichts näheres dazu geschrieben, obwohl das doch zur Fiktion gehört… Ich habe sie nicht vergessen, sondern möchte sie hier erstmal nicht weiter erläutern. Dafür muss ich erst noch was über die Mittel der Einigung sagen. Ich habe für diese Begriffe sogar einen eigener Artikel geplant.
Zusammenfassung: Jeder Spieler hat seinen individuellen Vorstellungsraum. Im Spiel einigen sich die Spieler auf einen gemeinsamen Vorstellungsraum, der dadurch wächst. Dafür werden die Spielregeln benutzt – aber auch andere Mittel der Einigung, wie z.B. eine Diskussion. Aufgrund des gemeinsamen Vorstellungsraumes müssen alle Spieler ihre persönliche Vorstellung immer wieder anpassen. Fakten bestehen aus Farbe und Essenz, wobei sich die Bedeutung im Spiel ändern kann.

Beim nächsten Mal will ich mehr über die Mittel der Einigung, also das benutzte System, schreiben.
zuletzt geändert: 10.8.2008, 14:09
19.7.2008, 15:58
Dr.Boomslang
Ich kann mir gut vorstellen dass diese Serie mal die Grundlage für Einsteiger wird. Alles wichtige drin und wie ich das beurteilen kann (als jemand der es schon kennt) sehr verständlich. Sehr schön!

Zur Essenz vs. Farbe noch ein Punkt über den ich mal nachgedacht habe (ich will keine vollständige Diskussion drüber anstoßen):
Wozu Farbe? Wie du auch sagst ist der Unterscheid zwischen mehr und weniger zwischen guter und schlechter Farbe erstmal ästhetischer Natur. Als wir das Konzept das erste mal besprochen hatten, dachte ich auch das wäre eigentlich das Wesentliche. Also Farbe als ein rein auf den Konsum ausgerichteter Aspekt: „Es sieht halt schöner aus“

Jetzt sehe ich das anders. Farbe ist ein zentraler Aspekt im Rollenspiel. Man kann nicht ohne Farbe, da Farbe sich an die Spieler als Personen richtet, während Essenz sich an die Spieler in ihrer Rolle als System (also als Spieler) richtet.
Da Spieler Kompetenzen haben die sie frei einsetzen können, ist, wie wir ja schon damals gesagt haben, jederzeit eine Umwandlung von Farbe und Essenz möglich und sogar nötig.
Deshalb ist Farbe aber eigentlich das Entscheidende. Farbe ist das was die Spieler zum Nachdenken bringt. Ob eine Farbe Essenz wird hängt von den Spielern und ihrem persönlichen Empfinden ab, und dies wird ganz maßgeblich durch die Art der Farbe beeinflusst.

Das ganze Spiel besteht aus einem Kreislauf von Produktion von Farbe, Konsum der Farbe, Umwandlung zu Essenz (das geschieht im Kopf der Spieler), und Produktion neuer Farbe.
Die Spieler müssen Farbe geben, Essenz ist nur ein Effekt, der von der Wahrnehmung un dem Denken der Spieler abhängt, und das hängt wiederum von der Farbe ab, die die Spieler produziert haben.
19.7.2008, 16:07
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Dom

Zitat von Dom, Teil 1:

Mein Ziel ist es, meine persönliche Idee „Was ist Rollenspiel?“ verständlich darzulegen.

Zitat von Dr.Boomslang:

Alles wichtige drin und wie ich das beurteilen kann (als jemand der es schon kennt) sehr verständlich.
Dann hätte ich ja mein Ziel erreicht. :)

Zu Farbe: Ich denke, an deiner Aussage ist was Wahres dran, aber es ist nicht ganz richtig. Denn gerade Fakten, die durch die Mechanik[1] entstehen, sind oft als reine Essenz ausgelegt. Alles, was Werte[2] direkt verändert, kann keine Farbe sein (es sei denn, es handelt sich Farb-Werte). Aber vielleicht sollten wir das woanders diskutieren — und vor allem erst, wenn ich den nächsten Teil geschrieben habe.

[1] Den Begriff Mechanik erläutere ich im nächsten Artikel
[2] Den Begriff Wert auch
zuletzt geändert: 19.7.2008, 16:19
19.7.2008, 17:29
Dr.Boomslang
Ja, ich warte mal auf den nächsten Artikel, dann stelle ich das mal kurz in Zusammenhang.

Was du sagst ist natürlich richtig und daran habe ich schon auch gedacht, ich habe es nur nicht extra erwähnt.
Den Prozess den ich beschrieben habe meinte ich nicht ausschließlich. Es ist einfach nur ein für mich zentraler Aspekt des Spiels, es kann aber natürlich auch noch andere geben.

Ich wollte nur den Fehlschluss vermeiden, Farbe habe nur was mit Ästhetik zu tun. Das würde nicht stimmen.
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