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RPG allgemein: [Dom Denkt] 5. Mittel der Einigung (Blog) {Mittel der Einigung, Regeln, Mechanik, RPG Theorie}
25.7.2008, 21:16
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Dom
Ein paar Tage sind vergangen, seit ich etwas über die Fiktion schrub.
Das heutige Thema lautet „Mittel der Einigung“ oder auch „System“. Was ist das?

Wie ich in der Übersicht schon schrieb, gilt das lumpley-Prinzip. Das ist (soweit ich den Überblick habe), mittlerweile allgemein anerkannt. Anfangs zwar etwas gewöhnungsbedürftig, jedoch bei näherer Betrachtung völlig einleuchtend. Die Aussage ist dieses Prinzips: Die Spieler „verhandeln“ über Vorschläge der einzelnen Spieler, und nur das, was von allen Spielern akzeptiert wird, landet als Fakt im gemeinsamen Vorstellungsraum.

„Wieso müssen sich alle einig sein? Ist es nicht so, dass der Spielleiter Recht hat? Oder das das, was im Kampagnenband geschrieben steht, gilt? Und wenn ich eine Attacke erfolgreich gewürfelt habe, treffe ich doch auch! Da einigt sich doch niemand!“

Es müssen sich tatsächlich alle einig sein. Normalerweise reicht es, wenn alle Spieler nicht ihre Ablehnung äußern. Sobald aber ein Spieler sagt: „Das ist doof, das geht gar nicht“ wird drüber diskutiert. Und dann wird entweder der eine Spieler überzeugt (z.B. indem die Regel „Der Spielleiter hat immer Recht“ oder ein Regelbuch zitiert wird), oder die Idee wird geändert. Oder der Spieler spielt nicht mehr mit. Aber so lange der eine Spieler darauf beharrt, dass etwas nicht so eintreten soll, wie es vorgeschlagen wurde, so lange kommt dieses Etwas auch nicht in den gemeinsamen Vorstellungsraum.

„Und wieso Verhandlung? Ist es nicht so, dass der Spielleiter Recht hat? Oder das das, was im Kampagnenband geschrieben steht, gilt? Und wenn ich eine Attacke erfolgreich gewürfelt habe, treffe ich doch auch! Da verhandelt doch niemand!“

Deswegen habe ich „verhandeln“ auch in Anführungszeichen geschrieben. So ist die Verhandlung um die Regeln schon vorbei, weswegen der Spielleiter vielleicht immer Recht hat, weswegen die Attacke gelungen ist. Das Verhandeln ist also nicht wörlich gemeint, vielmehr benutzen die Spieler unterschiedliche Mittel, um sich zu einigen. So beispielsweise die Spielregeln. Oder sie diskutieren miteinander. Oder sie bemühen das Quellenbuch. Und diese Dinge, die heißen „Mittel der Einigung“.

Im folgenden will ich versuchen, diese Mittel der Einigung etwas zu strukturieren. Wie sehen Mittel der Einigung aus? Ein paar Beispiele:
- Würfeln, Karten ziehen
- Diskutieren
- Situationen ausspielen
- Handlungen einfach festlegen
- auf die Regeln verweisen
- auf Werte des Charakters verweisen
- auf den gesunden Menschenverstand pochen
- auf den Hintergrund verweisen

Dabei sollte man sich nochmal klar machen, dass sich jede Spielgruppe vor dem Spiel auf die Mittel der Einigung geeinigt hat. So hat Jan vorgeschlagen: „Ich möchte D&D4 spielen. Macht ihr mit?“ Brigitte sagt daraufhin: „Gerne, aber nur, wenn wir auch eine Entwaffnen-Regel mit reinnehmen. Die fehlt mir nämlich.“ Und Alex meint: „Oh, cool. Als Hintergrund nehmen wir dann die Forgotten Realms, ich hab da schon eine coole Kampagnenidee! Ihr wisst ja sicher, dass es einen …“

In einer solchen Runde wird kein Spieler auf Shadowrun-Regeln verweisen können, um einen Vorschlag für den gemeinsamen Vorstellungsraum einzuführen oder abzulehnen; die sind als Mittel der Einigung in der Spielrunde nicht zugelassen. Es gibt aber auch ein paar Mittel der Einigung, die zugelassen sind, obwohl sie nicht ausdrücklich erlaubt wurden. Beispielsweise ist die Diskussion der Spieler eigentlich immer ein erlaubtes Mittel.

Man kann also sagen, dass es Mittel gibt, die irgendwo explizit festgehalten sind (z.B. im Regelbuch oder als Hausregel) und solche, die nicht explizit sind. Solche Regeln nenne ich — oh Wunder — implizit. Alles, was irgendwie mit Regeln oder Werten zu tun hat, sind explizite Regeln. Alles, was aufgeschrieben ist, ist explizit. Nur die Dinge, die man nicht aufgeschrieben finden, wie den gesunden Menschenverstand oder die spontane Diskussion am Spieltisch sind implizit.

Bei den expliziten Mitteln der Einigung kann man das Ganze noch weiter Unterteilen. Nicht so sytematisch, sondern eher willkürlich ist folgende Einteilung:
- Mittel, die auf Werte abzielen, also Würfel, Talentwerte oder Sonderfertigkeiten. Dabei will ich alles als „Wert“ bezeichnen, was irgendwie formalisiert in den Spielregeln vorkommt. Also auch sowas wie „Issue“ bei Primetime Adventures, oder die Bezeichnung von selbst wählbaren Spezialisierungen bei Fertigkeiten.
- Mittel, die auf die Rollen der Spieler abzielen. Also z.B. die Festlegung „Jeder Spieler spielt seinen Charakter.“ oder „Der aktive Spieler in der Initiativereihenfolge sagt an, was sein Charakter tun soll.“ oder auch „Wer die höchste Zahl würfelt, fängt an.“ Hier ist also Rolle so gemeint, wie in der Übersicht angekündigt: Die Rolle des Spielers innerhalb der Spielrunde und nicht der dargestellte Charakter.
- Mittel, die sich direkt auf den gemeinsamen Vorstellungsraum beziehen. Hier steht an erster Stelle natürlich der Hintergrundband. Aber es gibt auch Regeln, die eine Beziehung zwischen Werten und dem Vorstellungsraum bilden: „Mit Stärke zwölf kannst du 75 kg stemmen.“

Auch die impliziten Mittel kann man versuchen, weiter einzuteilen. Klar ist schonmal, dass sie sich nicht auf Werte beziehen können — denn diese sind ja explizit (und willkürlich) festgelegt, so dass jeglicher Bezug explizite Regeln erfordert. Gibt es keine passenden expliziten Regeln, werden üblicherweise Hausregeln etabliert. Also haben wir eigentlich nur noch:
- Mittel, die sich auf den gemeinsamen Vorstellungsraum beziehen. Vor allem der gesunde Menschenverstand wird hier immer wieder zitiert, aber auch eine offene Diskussion über Spielinhalte fällt hierunter.

Einigt sich die Gruppe durch eine Diskussion auf neue Beziehungen in der Gruppe oder ein neues Gruppengefüge, so ist diese Diskussion nicht dem eigentlichen Spiel zuzuordnen, sondern spielt sich rein auf der Ebene der Spieler ab. Hierbei handelt es sich nicht um ein Mittel, mit denen sich die Spieler auf neue Spielinhalte einigen. Daher rechne ich sie nicht den „Mitteln der Einigung“ zu, die ich hier in diesem Artikel behandele.

Um dem ganzen noch die Krone der Kompliziertheit aufzusetzen und noch unübersichtlicher zu machen, kann man sich allgemein noch überlegen, dass es Mittel gibt, die explizit angewendet werden und solche, die implizite Anwendung finden. Dabei bedeutet „explizite Anwendung“, dass die Spieler bewusst zu einem Mittel greifen und es anwenden. „Implizite Anwendung“ liegt dann vor, wenn die Spieler nicht bewusst etwas tun müssen. Das liegt beispielsweise dann vor, wenn ein Spieler entscheidet, dass etwas zu Boden fällt, wenn sein Charakter es fallen lässt, womit wir wieder beim vielbeschworenen gesunden Menschenverstand wären.

Jetzt soll aber mal tatsächlich Ordnung in die Mittel der Einigung kommen. Ich versuche mal, die obigen Spiegelstriche zu sortieren.

Um den Sinn dieses Begriffswaldes noch mal ins Gedächtnis zu rufen: Bei den Mitteln der Einigung geht es darum, dass sich die Spieler auf den gemeinsamen Vorstellungsraum einigen. Es sind also gerade die Mittel, mit Hilfe derer aus Vorschlägen Fakten werden. Und diese Mittel wollen systematisiert werden; Systematisierung ist oft der erste Schritt in Richtung Erkenntnis.

1. Explizites Mittel, explizite Anwendung

Diese Mittel der Einigung beziehen sich auf Werte oder benutzen Zufallsgeneratoren. Sie sind im Regelbuch niedergeschrieben oder als Hausregel festgehalten. Ich nenne das die Mechanik; diese Mittel sind die, die umgangssprachlich mit „Regeln“ beschrieben werden.

2. Explizites Mittel, implizite Anwendung

Hierunter fallen zwei Sorten von Einigungsmitteln:
a) Festlegung von Fakten aufgrund der Rolle.
b) Festlegung von Fakten aufgrund des Wissens um den Hintergrund.

3. Implizites Mittel, explizite Einigung

Die Gruppe diskutiert offen über den Inhalt im gemeinsamen Vorstellungsraum. Alle formalisierten Diskussionen (wie z.B. das Bietsystem in Western City) fallen nicht hierunter, sondern gehören zur Mechanik. Oft werden als Argumente andere explizite Mittel der Einigung zitiert; manchmal auch der gesunde Menschenverstand.

4. Implizites Mittel, implizite Einigung

Alles, was alle aufgrund ihrer alltäglichen Erfahrung als gegeben hinnehmen, fällt hierunter. Niemand wird bei Shadowrun die Schwerkraft infrage stellen. Niemand wird die Ausbreitung von Schall bezweifeln, oder das Vorhandensein von Licht an einem sonnigen Frühlingsmorgen.

Vielmehr ist es so, dass Abweichungen von diesen Dingen durch explizite Mittel oder zumindest explizite Einigung eingeführt werden müssen.

So, und was haben wir jetzt davon? Wir sehen, dass die geschriebenen Spielregeln nicht alles sind. Daneben gibt es noch die impliziten Mittel der Einigung, die ein Spieledesigner nicht beeinflussen kann. Überhaupt kann man ihnen mit Spielregeln — auch mit Hausregeln — praktisch nicht begegnen. Wenn man also feststellt, dass eine Gruppe mit den impliziten Mitteln der Einigung hat, dann kann man keine Regeln dagegen aufstellen. Vielmehr muss man hier beim Gruppenvertrag ansetzen, um das Spiel zu „reparieren“.

Ach, ja. Eine Sache fehlt noch! Was ist das System? In meinen Augen, ganz einfach: Alle expliziten Mittel der Einigung, die sich direkt auf das Spiel beziehen. Spiel ist hierbei alles, was mit den Werten, mit den Rollen oder mit der Fiktion zu tun hat. Alle anderen Mittel der Einigung gehören zwar auch zum Spiel, fallen aber nicht unter meinen System-Begriff.

Für Forgianer: Dies ist ein sehr großer Unterschied zum Big Model. Hier wird alles System genannt, mit dessen Hilfe sich die Spieler auf Spielinhalte einigen. Dazu gehört in letzter Konsequenz sogar eine enge Freundschaft zwischen zwei Spielern. Dieses System möchte ich mit lumpley-System bezeichnen. Allerdings ist dieser Systembegriff theoretisch ziemlich unbrauchbar, weil damit jede Gruppe ihr eigenes System spielt. Zudem weicht es ziemlich vom üblichen Sprachgebraucht der Rollenspieler ab und ist somit verwirrend. Aufgrund dieser Verwirrung vermeidet beispielsweise 1of3 den Begriff System völlig.
Puh, der warhscheinlich komplizierteste Artikel liegt hinter mir. Ich hoffe, die Überlegungen sind einigermaßen klar geworden. Ich habe lediglich versucht, die unterschiedlichen Mittel, mit denen sich die Gruppe auf neue Inhalte im gemeinsamen Vorstellungsraum einigt, zu systematisieren. Schwierig genug, weil die Vielfalt einfach sehr groß ist. Vielleicht fällt einem ja hier noch eine tollere Einteilung ein.

Beim nächsten Mal geht es um den Zusammenhang von Spielgruppe, Fiktion und Mitteln der Einigung und wie das Trio durch die Vorlieben und die Agenda zusammengehalten wird.

zuletzt geändert: 10.8.2008, 14:09
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