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Erzählspiele: [Private Eye] Mein Eindruck (Blog) {Private Eye, Rezension, Sherlock Holmes, Viktorianisches Zeitalter, London}
1.12.2008, 21:36
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Dom
Oha, schon wieder ein Rollenspiel weniger, das ich noch nicht kenne. Besser gesagt: Das ich noch nicht gelesen habe. Denn gespielt habe ich Private Eye, das Detektiv-Rollenspiel im viktorianischen London, noch nicht. Aber gelesen. Immerhin.

Das Buch selbst hat einen schicken, in Brauntönen gehaltenen Einband. Innendrin sindauf zweihundersechsundfünfzig schwarzweiß-Seiten vier Teile aufgeteilt: Regeln, London, Verbrechen und Abenteuer. Dazu gibt es noch eine wirklich tolle, riesige London-Karte von 1895 und ein Lesebändel. Das ganze kostet 37,90 € – relativ viel im Vergleich zu Massenprodukten wie D&D. Aber dafür ist es ja auch ein Buch aus Deutschland von einem kleinen Verlag und so. Ich habe das Geld jedenfalls gerne ausgegeben.

Die vier Teile zeigen sich auch in vier unterschiedlichen Seitenrändern, die allesamt von Sabine Weiss gestaltet wurde. Wie auch einige der Abbildungen. Sabine-Weiss-typisch sind die Dinge und Landkarten toll geworden, ihre Personen finde ich nicht gut und vor allem auch nicht unbedingt zur Beschreibung passend. Die meisten Bilder sind jedoch Originale Fotos und Zeichnungen aus dem 19. Jahrhundert, die natürlich hervorragend zur Stimmung beitragen.

Ein paar Worte zum Satz und zu formalen Fehlern: Der Schriftblock ragt leider (absichtlich) links und rechts ein gutes Stück in den Seitenrand hinein, was den Text stellenweise schlecht lesbar macht. Auch sonst hätte ein weiteres Lektorat dem Text gut getan; so fehlen doch einige der Verweise (und wegen diesen haben die AutorInnen immerhin auf einen Index verzichtet), es gibt einige komische Trennstriche im Text und seltsame Bild-Umfließungen. Insgesamt aber trotzdem ein hübsch gestaltetes Buch, das schon vom Aussehen her neugierig und Lust auf mehr macht. Auch Rechtschreibfehler sind mir nicht wirklich ins Auge gesprungen.

Aber um was geht es jetzt bei Private Eye? Ich habe es oben ja schon angedeutet: Verbrechensaufklärung im London der 1880er Jahre, also zu Zeiten Sherlock Holmes'. Ganz ohne Magie, ganz ohne komische Kulte, ganz ohne Phantastik. Einfach „nur“ Verbrechen, und die Charaktere sind Detektive, die diese Verbrechen aufklären müssen. Um das den Spielern näher zu bringen, beginnt das Buch mit der Erklärung der Regeln.

Die Regelerklärung ist nicht immer gelungen, jedoch sind die Regeln so einfach, dass man es trotzdem kapiert. Jeder Charakter hat sechs Attribute und dazu einen Sack voll Fertigkeiten. Gewürfelt wird mit W100, und zwar einfache Unterwürfel-Proben. Eine Fertigkeit wird zu einem Attribut addiert, das Ganze im Wesentlichen nach Schnauze des Spielleiters modifizert und dann eben unterwürfelt oder auch nicht. Letzteres bedeutet natürlich einen Fehlschlag. Kämpfe fügen sich nahtlos in dieses Schema ein – DSA-artig gibt es jeweils Attacke und Parade. Letztendlich nimmt die Beschreibung gerade mal elf Seiten ein. Als old-schoolige Besonderheit sei erwähnt, dass die Spieler bei der Erschaffung und beim Stufenanstieg würfeln müssen, wie viele Punkte sie verteilen dürfen.

Die Regelerklärung schließt mit der Beschreibung von Berufen ab, die als Detektive in Frage kommen. Ausführlich wird auf neun Berufe eingegangen, die dicht am Thema liegen. Weitere Berufe werden kurz beschrieben. Regeltechnisch haben die Berufe kaum Auswirkungen – Kontakte o.ä. sind nicht näher geregelt und müssen frei ins Spiel eingebracht werden. Insgesamt umfasst der erste Teil keine dreißig Seiten. Hervorzuheben sind hier auch immer die Tipps für Spieler von weiblichen Charakteren, da Frauen ja in den 1880er Jahren noch nicht viel zu sagen hatten.

Im zweiten Teil wird das Leben im viktorianischen London beschrieben. Hier erfährt der Leser alles, was er schon immer mal darüber erfahren wolle (oder auch nicht). Bis in die kleinsten Details haben die Autoren im Internet und in Büchern recherchiert: So weiß ich jetzt, dass man zweimal in die Signalpfeife blasen muss, um ein zweirädriges „Kutschentaxi“ heranzurufen. Oder war es doch das vierrädrige? Die Zeitangabe verwirrt mich: Ist mit „heute“ tatsächlich 2008 oder etwa doch 1880 gemeint? Manchmal denke ich das eine, manchmal das andere. Ob der Fülle an Details verliere ich ab und an die Lust am Lesen und überfliege Auzählungen von Clubs und Pubs.

Danach wird im „Stadtlexikon“ London selbst beschrieben, besser gesagt die wichtigsten Gebäude und Orte. Alphabetisch sortiert findet man alles von „Bank of England“ bis „Zoological Gardens“. Jeweils mit Ortsangaben, Aussehen, Funktion. Im Lexikon-Stil. Auch hier habe ich nicht alles gelesen, dieser Teil ist auch ganz klar als Recherche- und nicht als Lesebuch geeignet.

Der dritte Teil ist wieder wesentlich spannender zu lesen: Auf fünfzig Seiten steht alles wissenswerte zu Kriminalistik, Waffen, Täter, Recht und Gesetze zu lesen. Das Kapitel wird mit einer kleinen Sammlung berühmter Verbrechen abgerundet. Ähnlich wie schon im Teil über das Leben im viktorianischen London gibt es manchmal ermüdende Listen, wie z.B. die Zeitungen im Abschnitt Recherche. Insgesamt aber ein wirklich unterhaltsamer Teil über das Verbrechen und seine Aufklärung im 19. Jahrhundert.

Das danach folgende Abenteuer schließt das Buch ab. Die angesetzten acht Stunden Spielzeit halte ich erstmal für utopisch schnell, aber das ist in meinen Augen nicht schlimm. Wer sich jedoch darauf verlässt, ein One-Shot zu spielen, sollte sich von vorne herein (Ab)Kürzungen überlegen. Ansonsten ist das Abenteuer wirklich toll! Es werden die wichtigsten Charaktere beschrieben, die Orte werden erklärt, es wird gesagt, wie der Hintergrund aussieht und wo es welche Indizien gibt. Außerdem erfährt man, was die SLC tun (wenn die Helden nicht eingreifen). Daraus entwickelt sich dann die Geschichte. Klasse, so muss in meinen Augen ein Detektiv-Abenteuer aussehen! Das Abenteuer ist zum Spielen geschieben worden, nicht zum Lesen.

Das hört sich zwar alles gut an, ein paar größere Dinge zu bemäklen habe ich dennoch. An vielen Stellen verliert sich das Buch in geschichtlichen Details, die für ein Spiel irrelevant sind. Hier wäre weniger mehr gewesen; ein paar Beispiele reichen aus. Den Rest wird sich sicherlich der Spielleiter passend zur jeweiligen Situation ausdenken müssen und auch ausdenken wollen. Denn Ziel wird es wohl kaum sein, im Spiel das Buch herauszukramen und zu sagen: „Moment, ich schau mal eben, ob die Times auch eine Wochenend-Ausgabe hat.“

Dann fehlt mir eine Anleitung, wie man Detektiv-Abenteuer schreibt. Beim Lesen hat mich das Abenteuer im Buch stark an „Dogs in the Vineyard“ erinnert. Ich denke sogar, dass man einen DitV-ähnlichen Algorithmus finden kann, der Beziehungen und Verbrechen definiert. Damit ist dem SL die Arbeit natürlich nicht abgenommen – er würde aber durch solche Regeln eine deutliche Erleichterung spüren.

Und vor allem fehlt mir irgendwie eine Anleitung, wie man die Gruppe stimmungsvoll umsetzen kann. Ein zusammengewürfelter Haufen, der sich zufällig trifft, ist ja irgendwie doof. Und wie geht man mit den teilweise sehr unterschiedlichen Freizeit-Kontingenten der Charaktere um? Was macht man mit Verbindungen zu hohen Beamten? Wie wirkt sich eine hohe gesellschaftliche Stellung konkret aus? Wie ein Verlust des Ansehens?

Fazit: Kurze Regeln, die vielleicht zu einfach (bzw. nicht universell genug) sind paaren sich mit einer wahnwitziger Recherche-Arbeit und einem guten Abenteuer. Insgesamt hätte das Buch aber wesentlich cooler sein können: Weniger geschichtliche Details, dafür mehr „how to play“. Aber so, wie es jetzt ist, ist das Spiel schon ganz gut. Ich würde es auf jeden Fall mal spielen wollen.
2.12.2008, 08:03
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Achim
Dachte ich mir schon, dass Du das mit der fehlenden SL-Anleitung bemängeln wirst. War für mich der Hauptgrund es nicht zu kaufen.

Verlieren in Details (vgl DSA) und hakeliger Satz (cgl Opus Anima) sind ja häufige Probleme bei Rollenspielen. Gerade bei einem Detektivspiel, wo es ums Indizien sammeln, Verdachtsmomente erheben und falsche Fährten geht, hätte ich eine Einweisung sehr wichtig gefunden. Das ist immerhin etwas, was wesentlich mehr Überlegung bedarf, als ein Dungeon-, Reise- oder R-Map-Abenteuer.

Ist aber natürlich ein Verkaufsgrund für Folgeabenteuer. Wer hier Zusammenhänge sieht, möge die Illuminaten informieren!
2.12.2008, 10:18
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Harald Wagener
Für Anleitungen für den „Bau“ von investigativen Abenteuern empfehle ich ganz lax „The Esoterrorists“ und die dazugehörigen „Page XX“ Kolumnen, beides von Robin D. Laws.
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